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  • AutorenbildPhilipp Kürth

Technologien von morgen – und die Gedanken, die sich Juristen heute machen sollten

Wir leben in einem Zeitalter „umfassenden, in ständigem Wandel begriffenen Wissens“. So bezeichnet Quentin Hardy von der New York Times das 21. Jahrhundert.[1]

Wissenschaftliche Durchbrüche ziehen ein exponentielles Wachstum des verfügbaren Wissens nach sich, die zu technologischen Innovationen und wiederum mit hoher Frequenz zu einem neuen Weltverständnis führen. Es ist ein sich selbst beschleunigender Kreislauf.


Autonom entscheidende Assistenzsysteme verändern den Interaktionsprozess des Menschen mit seiner Umgebung. Der Einsatz von Künstlicher Intelligenz im Bewerbungsverfahren soll die Auswahl der für einen Job geeigneten Bewerber vom Einfluss subjektiver Vorurteile der Personaler lösen und das Verfahren objektiver machen. 53 Qubits des Rechenchips „Sycamore“ von Google komprimieren die Rechendauer eines herkömmlichen Computers auf ein Millionstel und versprechen Durchbrüche in der Werkstofftechnik, Medikamentenentwicklung oder Bilderkennung.


Diese technologischen und wissenschaftlichen Errungenschaften stehen nicht für sich. Sie gehen Hand in Hand mit der Herausforderung an die Menschen, ihr Verständnis von Kausalzusammenhängen und ihr Wertesystem neu zu fassen. Das Hinterfragen gesellschaftlicher Werte geht dabei weit über den Umgang mit individuenbezogenen Daten bei der Verarbeitung von Big Data hinaus.

Sensorik

Die Vernetzung von Individuen durch das Internet hat die Kommunikation revolutioniert, sie hat die Verbreitung von Information und den Zugang zu Wissen reformiert. Die Errungenschaft war die größere Teilhabe der Einzelperson an der Erschaffung, Rezeption und Verarbeitung von Information.


Der persönlichen Vernetzung, gepaart mit der Computerisierung ihrer Umwelt, folgt die Vernetzung von Gegenständen – den Smart Devices. Transport-, Haushalts- und Gebrauchsobjekte werden zunehmend mit Sensoren ausgestattet. Die Detektoren setzen einen Informationsaustausch in Gang, um die Ressourceneffizienz zu steigern. Folge dessen ist die Möglichkeit der Einflussnahme der Empfänger dieser Informationen auf die Emittenten.


Damit ist gemeint, dass sich aus den sensorerfassten Daten individualisierte Verhaltensprofile der Nutzer erstellen lassen. Charaktereigenschaften können in psychometrischen Datenbanken abgelegt und gruppiert werden. Statistische Analysen der Verhaltensweisen erlauben Rückschlüsse auf zukünftige Entscheidungen. Das Handeln und die Bedürfnisse des Individuums werden vorhersehbar.


Schon aufgrund der im Internet und in sozialen Medien hinterlassenen Datenspuren keimte die Debatte um notwendige Rechte an Daten auf. Der rechtliche Schutz ist marginal. Mit der wachsenden Einflussnahme auf Rechtssubjekte über ihre technologisierte Umwelt muss auch der Rechtsschutz in Bezug auf Verhaltens- und Bedürfnisprognosen gewährleistet sein.


Die Frage, die sich Juristen stellen müssen, ist: Wie ist ein geeignetes System der Herrschaft an den von der Einzelperson erzeugten Datenpunkten ausgestaltet? Und wie können die Transparenz der durch den Agglomeranten erhobenen Daten sowie die Einflussnahme des Datenschöpfers auf die über ihn gespeicherten Informationen sichergestellt werden?

Humangenetik

Neben exponentiell wachsenden Rechenkapazitäten leistungsfähiger Computer folgen auch die Durchbrüche in einem weiteren Wissenschaftszweig dem Moore’schen Gesetz: Die DNA-Sequenzierung ist ein Teilgebiet der Gentechnik. Ihre Innovationsstärke ist berüchtigter Dauergast in den Medien und eng konnotiert mit einer Ertragssteigerung in der Landwirtschaft durch vermeintlich synthetische Lebensmittel. Die Agrarindustrie ist jedoch nicht alleiniges Anwendungsfeld der Genforschung und -manipulation.


CRISPR ist eine Technologie zur gezielten Editierung von Genen mit sogenannten Gene-Drive-Genen. Gene-Drives bestehen aus zwei Komponenten, welche bestimmte Genmerkmale gezielt so manipulieren können, dass sie sich in der Vererbung durchsetzen. Das macht die Einflussnahme auf die menschliche Evolution möglich. Eine RNA scannt ein Chromosom und erkennt die Sequenz darin, die geändert werden soll. Ein Endonuklease-Gen – eine sogenannte Genschere – teilt die DNA des Chromosoms. Im Prozess der DNA-Reparatur wird die Struktur der Designer-Endonuklease kopiert. So lassen sich DNA-Abschnitte in das Chromosom einbauen, die dort vorher nicht vorhanden waren. Auf diese Weise können genetische Merkmale mittels erzwungener Gene-Drive-Homozygotie zu dauerhaft dominanten Merkmalen bei der Vererbung gemacht werden.


Das Szenario verursacht bei der Vorstellung einer Anwendung am Menschen ethisches Unbehagen. Die Manipulation von Genen nach Wunschkriterien klingt nach dem offenen Tor zur Züchtung von Designer-Individuen oder gleich ganzen Designer-Kollektiven. Zwei Prozesse greifen das Verständnis der Menschen davon an, was das Individuum unserer Spezies ausmacht. Mit dem Erkenntnisgewinn über den genetischen Code des Lebens und der Bemächtigung des Menschen, den Code zu manipulieren und umzuschreiben, derogieren persönliche Merkmale, die wir ohne jede Möglichkeit der Einflussnahme hinnehmen müssen. Gott- oder naturgegebene Eigenschaften existieren nicht mehr, oder sind jedenfalls nicht unabänderlich. Diese Selbstbemächtigung wird Einfluss auf unser Selbstbild, unsere Religionen und nicht zuletzt auf unser Wertesystem nehmen.


Aufgrund eines noch unbeherrschbaren Risikos von Nebenwirkungen verbietet § 5 ESchG die genetische Modifikation von Keimbahnzellen, welche das Genom generationenübergreifend ändert. Die Entwicklung einer Methode zum menschlichen Gentransfer macht Tests am Menschen notwendig. Irreversible Folgen bei den Tests stehen im Widerspruch zum objektiv-rechtlichen Gehalt des Grundrechts auf Leben und körperliche Unversehrtheit gem. Art. 2 Abs. 2 S. 1 GG und der Menschenwürdegarantie des Art. 1 Abs. 1 GG.[2] Dieses Verbot könnte dann nicht mehr gerechtfertigt sein, wenn die Chancen eines genetischen Eingriffs die Risiken einer genetischen Beeinträchtigung der Gesundheit überwiegen.


Die Frage an die Rechtswissenschaften lautet: Wie ist der Eingriff in den genetischen Code durch humangenetische Verfahren rechtlich zu werten? Kann der Einzelne über einen Eingriff in die eigene DNA disponieren oder besteht ein unveräußerliches Grundrecht am eigenen genetischen Code?[3] Die freie Disposition ließe sich in Anbetracht von zwei Faktoren jedenfalls in Zweifel ziehen: der mögliche Einfluss sozialen Drucks auf die Entscheidung zu einem Eingriff im Kontrast zur freien Selbstbestimmung und die nachhaltigen Auswirkungen auf Folgegenerationen.

Neuroprognose und Optogenetik

Neurowissenschaft und Psychologie fluten Stück für Stück mit Licht, was lange im Dunkel lag: Sie entwickeln ein Verständnis für die Mechanismen im menschlichen Gehirn und ihren Reaktionszusammenhang zu äußeren Einflüssen. Die Offenlegung biochemischer Reaktionsverläufe im Gehirn während des Entscheidungsprozesses stellt sogar das Konzept des Menschen als Herr über seinen freien Willen in Frage.


Die Neuroprognose will Erkenntnisse über das zukünftige Verhalten und absehbare Gefühle aus bildgebenden Verfahren des Gehirns gewinnen. Besonderes Augenmerk dürften Strafrechtswissenschaftler auf die hämodynamische Aktivität des anterioren cingulären Cortex legen. Dieser verklausuliert etikettierte Bereich ist aktiv im Zusammenhang mit der Erwartungshaltung, Emotionen, der Kontrolle von Impulsen und im Entscheidungsprozess. Eine Analyse der Hirnaktivität kann Aufschluss zum Beispiel über die Wahrscheinlichkeiten von Wiederholungsstraftaten geben.


Dem bloßen Verständnis von den Prozessen der Informationsverarbeitung im Gehirn folgt auch in diesem Forschungszweig die Einflussnahme durch biotechnologische Verfahren. Die Optogenetik macht Gedankenströme dadurch sichtbar, dass fluoreszierende Proteine in Hirnzellen eingeschleust werden und sie zum Leuchten bringen, wenn diese aktiv werden. Werden die Neuronen mit lichtempfindlichen Ionenkanälen verwoben, können sie von außen ein- und ausgeschaltet werden. Die externe Steuerung von Gedanken wird greifbar.

Ein bereits genommener Schritt in Richtung der Gedankenmanipulation ist die Übertragung von Empfindungen. In Tierversuchen wurde dazu die Hirnaktivität der Versuchsobjekte aufgezeichnet und auf die korrespondierenden Zellen eines anderen Tieres übertragen. Mögliche Anwendungen Virtueller Realität bauen auf diese Vorgehensweise auf. Die Informationsverarbeitung im Gehirn wird verwoben mit einer Technologie, die künstlich Informationen der Wahrnehmung schafft.


Der Jurist muss sich die Fragen stellen: Gibt es ein Eigentum an Gedanken, Empfindungen und Entscheidungen? Gibt es ein „Urheberrecht“ daran? Gibt es einen um jeden Preis „unantastbaren Bereich“ des Denkens und Fühlens, der vielleicht sogar neben der Individual-, Privat- und Intimsphäre eine eigenständig geschützte Persönlichkeitssphäre begründet?

Conclusio

Die Steigerung von Leistungsfähigkeit und Komplexität des menschlichen Gehirns bedingen seit jeher proportional zur biologischen Evolution die kulturelle Evolution – die Befähigung des Menschen zur Kultur. Sie umfasst auch die horizontale Weitergabe von Erfahrungen und Werten in der Gesellschaft. Mit dem Greifen nach Einflussmöglichkeiten auf das Denken, die Entscheidungsfreiheit oder die definitorischen genetischen Persönlichkeitsmerkmale ist ein Wandel des Menschenverständnisses und der rechtlichen Grenzen von Freiheitsausübung und -beschränkung unausweichlich.


Juristen von morgen tun gut daran, sich bereits heute mit den herannahenden Herausforderungen der bevorstehenden wissenschaftlichen und technologischen Explosion vertraut zu machen. Nur so können sie mit geeigneten Argumenten die Debatte (in eine wünschenswerte Richtung) lenken.


[1] Hardy, Das Zeitalter umfassenden, in ständigem Wandel begriffenen Wissens, in: Brockman (Hrsg.), Neuigkeiten von morgen – die führenden Wissenschaftler unserer Zeit über die wichtigsten Ideen, Entdeckungen und Erfindungen der Zukunft, S.294.


[2] So die Gesetzesbegründung, BT-Drs. 11/5460 S.11. [3] Für letzteres etwa Fisahn, Ein unveräußerliches Grundrecht am eigenen genetischen Code, in: ZRP 2001, S.49.


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