Benjamin Förder
Mit Legal Tech zu mehr Gerechtigkeit
In Deutschland wird weniger geklagt. Seit Jahren ist ein Rückgang der Eingangszahlen bei den Zivilgerichten erster Instanz zu beobachten. So beläuft sich dieser Rückgang im Vergleichszeitraum ab 1995 auf rund 20 % bei den Landgerichten und sogar auf rund 47 % bei den Amtsgerichten.[1] Diese Zahlen sind alarmierend und deuten auf ein möglicherweise bestehendes Problem bei der Durchsetzung von Recht hin. Zur Untersuchung der Ursachen hat das BMJV im letzten Jahr ein umfassendes Forschungsvorhaben in Form einer Studie ausgeschrieben und vergeben. Solche „unmet-legal-needs“ Studien sind insbesondere im angloamerikanischen Raum schon seit langem bekannt, um das Rechtswesen an etwaigen Bedarfspunkten gezielt anpassen zu können.
Rechtsdurchsetzung als essentieller Bestandteil des Rechtsstaates
Der geordnete Zugang zum Recht ist ein essentieller Bestandteil des Rechtsstaates und eines funktionierenden Gemeinwesens.[2] Dieser erfordert jedoch, dass Bürger nicht nur Rechte erwerben, sondern diese auch durchsetzen können. Insbesondere in Situationen asymmetrischer Machtverteilung besteht die Gefahr, dass potentielle Kläger von ihrem Recht aus vielerlei Gründen keinen Gebrauch machen.
Hürden der Rechtsdurchsetzung
An erster Stelle steht hier das finanzielle Risiko des Rechtsschutzes aus der Perspektive des klagenden Bürgers. Art. 3 GG i.V.m. mit dem Rechtsstaatsprinzip besagt, dass der Zugang zu Gerichten einer Partei nicht aufgrund ihrer wirtschaftlichen Leistungsfähigkeit versperrt sein darf (subjektive-relative Kostensperre).[3] Effektiver Rechtsschutz darf nicht vom Geldbeutel abhängen.[4] Aus der Perspektive eines Bürgers, der begrenzte wirtschaftliche Ressourcen möglichst effektiv einsetzen muss, wäre dies allerdings faktisch auch dann der Fall, wenn das Kostenrisiko zu dem mit einem Verfahren angestrebten wirtschaftlichen Erfolg bei vernünftiger Abwägung nicht mehr als wirtschaftlich sinnvoll erschiene (objektiv-absolute Kostensperre).[5] Zur Überwindung dieser Hemmnisse dienen zum einen die Prozesskostenhilfe (subjektive-relative Kostensperre), zum anderen die gestaffelte Gebührenordnung des RVG, durch die Rechtsschutz auch bei geringeren Streitwerten mittels Quersubventionierung der Anwaltsgebühren wirtschaftlich sinnvoll ermöglicht werden soll (objektiv-absolute Kostensperre). Dennoch scheinen diese Ansätze nicht vollständig zu greifen. Im Jahr 2013 gaben in einer Studie im Auftrag des GdV (Gesamtverband der Deutschen Versicherungswirtschaft) 71 % der Befragten an, sie würden aus Angst vor den Kosten eines Rechtsstreites keinen Anwalt beauftragen.[6] Offenbar sind die Ansätze der Prozesskostenhilfe und Beratungskostenstaffelung daher nicht ausreichend.
Neben dem finanziellen Risiko stehen zudem häufig weitere Faktoren der Durchsetzung von Recht entgegen. Insbesondere der lange Instanzenzug ist geeignet, effektiven Rechtsschutz zu erschweren. Während die durchschnittliche Verfahrensdauer bei den Landgerichten im Jahr 1995 bei 6,3 Monaten lag, erhöhte sich diese im Jahr 2018 auf 10,4 Monate (bei den Amtsgerichten von 4,5 auf 5 Monate).[7] Bis der Instanzenzug erschöpft ist können so viele Jahre vergehen, die es zeitlich, nervlich und finanziell unattraktiv machen, eine Klage anzustrengen. Hinzu kommt, dass sich viele Bürger, insbesondere bei der Verletzung von Verbraucherrechten, ihrer Rechte gar nicht bewusst sind. Dies in Kombination mit den Unsicherheiten beim Vorgehen und des Ausgangs eines etwaigen Verfahrens führt letztlich dazu, dass viele auf die gerichtliche Durchsetzung ihrer Rechte verzichten.
Legal Tech als Abhilfe
Natürlich kann mit Hilfe von Legal Tech nicht der Ausgang eines Verfahrens vorausgesagt werden und auch der lange und risikobehaftete Instanzenzug bleibt grundsätzlich bestehen, jedoch schafft Legal Tech insbesondere im Bereich vermeintlicher Bagatellfälle Abhilfen.
Im Rahmen automatisierter Rechtsberatung kann rechtsuchenden Bürgern bereits bei einfacheren Sachverhalten die Rechtslage mit Hilfe von „Entscheidungsbäumen“ unmittelbar mitgeteilt werden. Exemplarisch hierfür sind die auf Entschädigungszahlungen bei Flug- oder Zugausfall und Verspätung spezialisierten Legal Tech Unternehmen. Neben der unmittelbaren Informationsmöglichkeit kommt hinzu, dass es erheblich einfacher ist, den Browser zu öffnen, die Situation zu umreißen und mittels der von den Anbietern eingesetzten search engine optimisation direkt auf ihre Website geleitet zu werden, anstatt sich zu einem niedergelassenen Anwalt zu begeben.
Wo zuvor der Aufwand einer Klage samt anwaltlicher Beratung als objektiv-absolute Kostensperre empfunden und zum möglichen Gewinn außer Verhältnis stand, können diese Anbieter aufgrund der Massen von gleich gelagerten Fällen durch Rechtsautomatisierung die wirtschaftlich sinnvolle Durchsetzung von Rechten ermöglichen.
Zwar erfolgen diese Dienstleistungen nicht umsonst und werden in der Regel mit einer nicht unerheblichen Provision vergütet, allerdings wird diese naturgemäß nur im Erfolgsfall fällig. Damit entfällt das Kostenrisiko als Haupthürde der Rechtsdurchsetzung. Darüber hinaus bieten die Anbieter den Kunden häufig eine (dafür geringere) Sofortauszahlung und übernehmen dadurch das volle Prozessrisiko. Der rechtssuchende Bürger kann auf diese Weise sämtliche einer Klage entgegenstehenden Faktoren abwälzen. Er sieht sich weder einem langen und risikobehafteten Instanzenzug gegenüber, noch muss er „frisches Geld“ für das Verfahren aufwenden.
Nun mag dieser Form von Rechtsdurchsetzung entgegengehalten werden, sie unterlaufe die gesetzlich vorgesehenen Instrumentarien von Prozesskostenhilfe und Beratungskostenstaffelung und überhaupt den Rechtsberatungsmarkt, doch wird dabei verkannt, dass im Rahmen bisheriger Legal Tech Anwendungen nichts verloren, doch viel gewonnen wird. Die vorgenannten Bagatellfälle fallen durch die klassischen Raster und führen damit auch zu einer Schwächung des Rechtstaates und seines Ansehens bei den Bürgern. Das Geschäft, das Legal Tech Anbieter in Folge der Abtretung von Verbraucherrechten machen, stellt eine Win-win-Situation dar. Sie fangen die Fälle ab, die der klassische Rechtsmarkt nicht kostengünstig und wirtschaftlich betreuen kann und bieten Bürgern damit eine echte Alternative. Aus der Perspektive des Verbrauchers betrachtet, andernfalls gar nichts zu bekommen, stellen die angebotenen und unkompliziert zu erhaltenden Summen einen nennenswerten Teil der Entschädigungsansprüche dar. Unter Berücksichtigung der Risiken für die Anbieter dieser Dienstleistungen erscheint ein solches Geschäft nur als fair.
Fazit
Legal Tech Anwendungen, wie sie bereits von Anbietern für Entschädigungszahlungen genutzt werden, ermöglichen die unmittelbare und unkomplizierte Information von rechtsuchenden Bürgern im Bereich einfacherer Sachverhalte. Indem die Anbieter Verbrauchern das Prozessrisiko abnehmen und aufgrund der Massen von gleich gelagerten Fällen mit Hilfe von Rechtsautomatisierung ihre eigenen Kosten reduzieren, ermöglichen sie die wirtschaftlich sinnvolle Durchsetzung von Rechten, die anderenfalls aufgrund der objektiv-absoluten Kostensperre regelmäßig uneingeklagt blieben. Damit fangen sie Fälle ab, die der klassische Rechtsmarkt nicht kostengünstig und wirtschaftlich betreuen kann und leisten somit einen Beitrag zum Rechtsstaat.
[1] Bundesamt für Justiz Referat III 3, Geschäftsentwicklung der Zivilsachen in der Eingangs- und Rechtsmittelinstanz, 2019 (URL: https://www.bundesjustizamt.de/DE/SharedDocs/Publikationen/Justizstatistik/Geschaeftsentwicklung_Zivilsachen.pdf?__blob=publicationFile). [2] Hartung, Bues, Halbleib, Legal Tech. Die Digitalisierung des Rechtsmarkts, München 2017, S. 10. [3] BVerfGE 81, 347 ff; Wolf in FS 60 Jahre Bundesrechtsanwaltskammer, 2019, S. 63, 163 ff. [4] Wache, in MüKo/ZPO, 2016, § 114 ZPO Rn. 1. [5] BVerfGE 85, 337. [6] Gesamtverband der Deutschen Versicherungswirtschaft e. V., forsa Gesellschaft für Sozialforschung und statistische Analysen mbH, Ängste und Erwartungen von Verbrauchern bei rechtlichen Auseinandersetzungen, 2013, S. 19 (URL: https://www.gdv.de/resource/blob/30990/916cec00467920d4121f3f234e109ba5/studie-forsa-studie-kosten-eines-rechtsstreits-data.pdf). [7] Bundesamt für Justiz, siehe [1].