Lucas Schönborn
Besteht Recht aus Algorithmen?
Aktualisiert: 19. Nov. 2019
Algorithmen nehmen einen immer größeren Bestandteil des täglichen Lebens ein. Sie übernehmen die Automatisierung der Informationsbeschaffung, -verarbeitung sowie -gewichtung und der darauf aufbauenden Entscheidungsprozesse. Viele Juristen fragen sich, ob sich alle erdenklichen Rechtsfragen automatisieren lassen, also ob diese durch Algorithmen abgebildet werden können. Dies setzt denklogisch voraus, dass das Recht in Gänze aus Algorithmen besteht. Das kodifizierte Recht arbeitet mit Tatbestand und Rechtsfolge. Im Folgenden das Beispiel des § 119 Abs. 1 BGB: „Wer bei der Abgabe einer Willenserklärung über deren Inhalt im Irrtum war oder eine Erklärung dieses Inhalts überhaupt nicht abgegeben wollte, kann die Erklärung anfechten, wenn anzunehmen ist, dass er sie bei der Kenntnis der Sachlage und bei verständiger Würdigung des Falles nicht abgegeben haben würde.“ Ist der Tatbestand erfüllt, liegt also ein sog. Inhalts- oder Erklärungsirrtum vor, kann die Erklärung angefochten werden.
Stellt eine solche Struktur von Tatbestand und Rechtsfolge schon einen Algorithmus dar?
Was ist ein Algorithmus?
Ein Algorithmus ist eine Vorschrift, die wird Lösung einer Menge von im Vorhinein unbekannten Problemen verwendet wird. Er besteht aus einer endlichen Folge von Schritten mit der aus bekannten Eingangsdaten neue Ausgabedaten eindeutig ermittelt werden können. Diese Struktur ist dem Recht also gar nicht so unähnlich, wenn man sich noch einmal das obige Beispiel von § 119 Abs. 1 BGB verdeutlicht. Der Tatbestand kann hier als eine Eingangsdate und die Rechtsfolge die Ausgangsdaten gesehen werden.
Besteht das Recht dementsprechend aus Algorithmen, die theoretisch automatisiert werden können? Um diese Frage zu beantworten, sollte zuerst definiert werden, was ein Algorithmus ist, die Voraussetzungen definieren und schließlich diese auf das Recht übertragen.
Die Definition eines Algorithmus, die sich auf Wikipedia findet, lautet: Ein Algorithmus ist eine eindeutige Handlungsvorschrift zur Lösung eines Problems oder einer Klasse von Problemen. Algorithmen bestehen aus endlich vielen, klar definiertenEinzelschritten. Somit können diese sowohl in ein Computerprogramm implementiert werden, aber auch in menschlicher Sprache formuliert werden.[1] Auf den ersten Blick könnte man lediglich das Wort Algorithmus durch Recht austauschen und hätte eine Definition dessen, was Recht überhaupt ist. Hält diese These jedoch auch einem näheren Blick stand?
Die Voraussetzungen eines Algorithmus
Dafür sollten wir zunächst die charakteristischen Eigenschaften von Algorithmen näher betrachten. Dies sind im Wesentlichen:
1. Eindeutigkeit: Ein Algorithmus darf keine widersprüchliche Beschreibung haben. Diese muss eindeutig sein.
2. Ausführbarkeit: Jeder Einzelschritt muss ausführbar sein.
3. Fintheit (Endlichkeit): Die Beschreibung des Algorithmus muss endlich sein.
4. Terminiertheit: Nach endlich vielen Schritten muss der Algorithmus enden und ein Ergebnis liefern.
5. Determiniertheit: Der Algorithmus muss bei gleichen Voraussetzungen stets das gleiche Ergebnis liefern
6. Determinismus: Zu jedem Zeitpunkt der Ausführung besteht höchstens eine Möglichkeit der Fortsetzung. Der Folgeschritt ist also eindeutig bestimmt.
Gehen wir diese Voraussetzungen nun im Einzelnen durch und übertragen diese auf die Struktur des Rechts.
Eindeutigkeit: Ein Algorithmus darf keine widersprüchliche Beschreibung haben. Dies lässt sich ohne Probleme auch auf das Recht übertragen. Schließlich muss auch eine Norm kohärent sein und darf in sich keine Widersprüche erhalten (Ob dies den Tatsachen entspricht, sei mal dahingestellt).
Bei dem Merkmal der Eindeutigkeit finden sich folglich parallelen zwischen Recht und Algorithmen.
Ausführbarkeit: Ausführbarkeit bedeutet, dass jede einzelne Anweisung von Computern bzw. Menschen in der Realität umsetzbar sein muss. Dieser Punkt bedarf keiner weiteren Betrachtung, schließlich muss das Recht denklogisch ausführbar sein.
Fintheit: Die Beschreibung eines Algorithmus muss eine endliche Länge besitzen, d.h. er besteht aus einer begrenzten Anzahl von Anweisungen mit begrenzter Länge. Dieser Punkt dürfte auch für Rechtsnormen unstreitig gegeben sein.
Determiniertheit: Ein Algorithmus muss mit den gleichen Eingabewerten & Startbedingungen stets das gleiche Ergebnis liefern.
Hier wird es nun spannend. Auf das Recht übertragen würde dies bedeuten, dass Gerichte gleiche Sachverhalte immer gleich entscheiden müssen. Dies ist mitnichten der Fall. Ein bekanntes Beispiel hier sei der Ku’damm-Raser-Fall. Juristen vertreten hier unterschiedlichen Auffassungen, ob die Täter vorsätzlich gehandelt haben. Es kann also nicht davon ausgegangen werden, dass ein bestimmter Sachverhalt juristisch immer zu den gleichen Ergebnissen führt.
Bedeutet dies im Umkehrschluss, dass Recht nicht algorithmisch ist? Dies lässt sich aus der gegebenen Feststellung noch nicht ableiten. Schließlich wird nur über das Vorliegen einer bestimmten Tatbestandsvoraussetzung gestritten. Ob eine bestimmte Voraussetzung gegeben ist, ist bei der Abbildung von Lebenssachverhalten kraft Natur der Sache nicht so eindeutig ist wie beispielsweise bei mathematischen Voraussetzungen. Hier wird doch darüber gestritten, ob ein bestimmtes Verhalten unter abstrakte Voraussetzungen fällt. Ist dies so, ist die Rechtsfolge jedoch immer die gleiche: Nämlich, dass die Norm einschlägig ist, wie auch immer die Rechtsfolge aussieht. Grundsätzlich ist Recht also auch determiniert. Nur lässt sich nicht ohne weiteres beurteilen, ob eine bestimmte Tatbestandsvoraussetzung (bsp. grobe Fahrlässigkeit) vorliegt.
Determinismus: Deterministische Algorithmen sind Algorithmen, bei denen nur im Voraus definierte Zustände auftreten. Es muss also immer die gleiche Folge an Zuständen durchlaufen werden. Zu jedem Zeitpunkt ist der nachfolgende Schritt des Algorithmus festgelegt. Alle Berechnungsschritte stehen bereits im Voraus fest und können auch nicht umgangen werden. Dieser Punkt ist nicht zu verwechseln mit dem vorherigen Kriterium – der Determiniertheit. Die Determiniertheit bezieht sich lediglich auf das Ergebnis, wohingegen Determinismus sich auf den Weg zu diesem Ergebnis bezieht. Im Vergleich mit dem Recht ist dieser Punkt auch wenig problematisch. Schließlich wird geprüft, ob eine Tatbestandsvoraussetzung gegeben ist. Ist dies der Fall, wird die nächste überprüft und so weiter. Die Reihenfolge der Prüfung der Tatbestandsvoraussetzung ist ebenfalls immer im Voraus gegeben und variiert nicht (was nicht heißt, dass es keine Streitigkeiten hinsichtlich juristischer Prüfungsschemata gibt. Wird der Algorithmus programmiert, muss sich jedoch auf ein Prüfungsschema festgelegt werden. Hier findet sich eine Umsetzungsschwierigkeit hinsichtlich der Automatisierung der juristischen Prüfung).
Kann sich das gesamte Rechtssystem automatisieren lassen?
Kann also theoretisch das ganze Recht automatisiert werden? Grundsätzlich schon. Problematisch hierbei ist jedoch insbesondere, dass das Vorliegen von Tatbestandsvoraussetzungen häufig eine Wertungsfrage ist, die algorithmisch nicht abgebildet werden kann. So kann beispielsweise ein Algorithmus (grundsätzlich noch) keine Interessenabwägung im Wege der praktischen Konkordanz durchführen, bewerten, ob sich beide Vertragsparteien nach Treu und Glauben verhalten haben, oder ob jemand grob fahrlässig gehandelt hat. In diesen Fällen werden entweder verschiedene Rechtsgüter abgewogen oder ein konkreter Lebenssachverhalt unter sehr abstrakte Begriffe subsumiert. Diese Wertungen können sich nicht ohne weiteres automatisieren lassen – bzw. natürlich könnte man einen Algorithmus dahingehend programmieren, dass wenn Rechtsgut A das Rechtsgut B überwiegt, die Abwägung zugunsten von Verfassungsgut A ausgeht. Jedoch kann ein Algorithmus grundsätzlich nur sehr bedingt die dahinterstehende Dimension erfassen und entsprechende Wertung durchführen. Die Struktur eines Algorithmus kann die Dimension des betroffenen Rechtsgutes im Einzelfall nicht erfassen und adäquat abwägen. Anders ist dies, wenn ein sehr ähnlich gelagerter Sachverhalt gerichtlich bereits entschieden wurde oder eine bereits bekannte Fallgruppe einschlägig ist. Das schematische Anwenden von Fallgruppen oder das Übertragen von Gerichtsurteilen in sehr ähnlich gelagerten Fällen kann also grundsätzlich ebenfalls automatisiert werden.
Erwähnenswert ist an dieser Stelle auch ein aktuelles Urteil des BGH. Im Mai hat dieser entschieden, dass eine schematische Anwendung von Fallgruppen bei der mietrechtlichen Frage der Zulässigkeit von Eigenbedarfskündigungen unzulässig ist.[2]Viele wertungsabhängige Rechtsfragen dürften sich also nicht ohne weiteres in den nächsten Jahren automatisieren lassen – sowohl aufgrund technischer als auch rechtlicher Hürden.
[1] https://de.wikipedia.org/wiki/Algorithmus
[2] BGH Urteil vom 22.05.2019, VIII ZR 180/18; VIII ZR 167/17